Der Soziologe Prof. Dr. Armin Nassehi lehrt an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Er forscht u. a. über Entscheidungsprozesse in Politik und Wirtschaft.
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STAHLBAU.de: Herr Professor, vor deutschen Mittelständlern halten Sie einen Vortrag über „10 deutsche Zukunftsfragen“. Welche Fragen sind das?
Prof. Dr. Armin Nassehi: Für mich sind die wichtigsten Zukunftsfragen zum einen das Wissen, zum anderen die Kompetenzen von Führungskräften und Eliten. Man kann sich in dem Wissen, das man hat und das sich bewährt hat, gut einrichten. Nun wissen wir aber, dass gerade dort, wo Wissen allzu sicher ist, am ehesten Krisen entstehen. Ein Unternehmen muss also seine bewährten Wissensroutinen in Frage stellen, um sich auf neue Herausforderungen einzustellen. Es sind übrigens gerade mittelständische Unternehmen, die eher solche Neuanpassungen managen können als Konzerne und Großunternehmen, deren Struktur mit der Größe immer behördenähnlicher wird. Hier brauchen wir in Zukunft womöglich kreativere Formen der Wissensentwicklung und Ausbildung. Ich würde mir da eine ganz neue Form der Zusammenarbeit zwischen Universitäten und Unternehmen wünschen.
Wie soll das gehen?
Wir brauchen Gelegenheiten zu sehen, dass das, was wir tun, aus anderen Perspektiven ganz anders aussieht. Zum Beispiel gibt es Führungskräfteweiterbildungen der bayerischen Staatskanzlei, bei denen Mitarbeiter von Ministerien und anderen staatlichen Stellen für eine kurze Zeit das Ministerium wechseln. Da gab es eine junge Juristin, die im Justizministerium mit Fragen der rechtlichen Regulierung von Patientenverfügungen beschäftigt war. Aus rechtlicher Perspektive hielt sie die wesentlichen Fragen für gelöst. Sie ist dann für einige Zeit in das Gesundheitsressort gewechselt und hat dort die Perspektive von Medizinern oder Pflegepersonal kennen gelernt. Und hat erkannt: Wenn rechtlich vom „Beginn der Sterbephase“ gesprochen wird, ist das juristisch eindeutig, aber medizinisch eben nicht. Interessant an dem Fall ist, dass die junge Juristin nun keineswegs ihre Identität als Juristin verloren hat, im Gegenteil. Sie konnte nun viel besser die Grenzen, aber auch die Möglichkeiten rechtlicher Regulierung verstehen.
Inwiefern kann das Vorbild für die Wirtschaft sein?
Auch ein Unternehmen besteht doch aus sehr unterschiedlichen Perspektiven, die sich zum Teil nicht angemessen verstehen. Müssen die Abteilungen gegeneinander kämpfen? Oder können sie womöglich ihre Differenzen produktiver bearbeiten? Wofür ich übrigens nicht plädiere, ist eine naive Forderung nach Harmonie und Perspektivenvereinheitlichung. Das gibt es in unserer komplexen Welt nicht mehr.
Deutsche Unternehmen beklagen einen steigenden Fachkräftemangel. Wo liegen Ihrer Meinung nach die Gründe, dass Deutschland dieses Problem nicht in den Griff bekommt?
Der Fachkräftemangel wird sich mit dem demografischen Wandel noch verschärfen. Wir werden also darauf angewiesen sein, im Wettbewerb um die besten Köpfe der Welt mehr Anstrengungen einzuleiten. Deutschland ist, das muss man leider sagen, für ausländische Studenten und junge Arbeitnehmer nicht unbedingt attraktiv – zu bürokratisch. Wir haben keine Tradition als ein Land, das gezielte Einwanderung fördert und den Leuten Perspektiven für sich und ihre Familien gibt. Die Frage ist auch, wen wir anwerben wollen. Es ist vielleicht ein kulturpolitischer Fehler, den besonderen Kredit, den Deutschland, die deutsche Sprache und die deutsche Kultur gerade in Osteuropa nach wie vor haben, nicht zu nutzen. Hier gibt es viele sehr leistungsorientierte, gut ausgebildete Leute, für die wir etwas tun müssen, damit sie kommen. In Deutschland herrscht aber immer noch der fatale Glaube, wenn man nur die Grenzen aufmacht, dann kommen die Leute massenhaft. In der Wissenschaft zum Beispiel muss man sagen: Zu uns kommen die, die ohnehin gezielt nach Deutschland wollen, oder die, die es nicht in den angelsächsischen Sprachraum geschafft haben. Das sollte uns zu denken geben.
Ohne einen Mentalitätswandel bei der Zuwanderung wird es also nicht gehen?
Nein. Ansonsten ist dem Fachkräftemangel nur durch gezielte gute Ausbildung beizukommen. Aber dazu muss das deutsche Bildungssystem flexibler werden, aufstiegsorientierter. Gerade für soziale Aufsteiger sind technische Berufe und Studiengänge ein gutes Mittel, weil hier nicht die kulturellen Bildungsdefizite deutlich werden. Damit waren wir in der 1960er- und 70er-Jahren sehr erfolgreich. Dafür muss nun mehr getan werden.
Bei welchen Fragen, die Sie für die Zukunft der deutschen Wirtschaft als wichtig erachten, ist die Politik noch besonders gefordert?
Um es ganz klar zu sagen: Deutschlands größter Standortfaktor ist die mittelständische Wirtschaft. Aus soziologischer Sicht ist sie die Instanz, die sich am ehesten auf die Komplexitäten von Märkten einstellen und für angemessene Arbeitsbedingungen sorgen kann. Hier muss die Wirtschaftspolitik ansetzen und diesen Sektor besonders stärken.
Stellen Sie sich vor, Sie leiten ein mittelständisches deutsches Unternehmen und bekämen Ihre Analysen in die Hand: Welche Maßnahme würden Sie als erstes treffen?
Das ist eine schwierige Frage. Was ich als Sozialwissenschaftler anbieten kann, ist ein Anlass, über Routinen nachzudenken. Denn ich glaube daran, dass die Konfrontation mit anderen Perspektiven Lernprozesse auslöst. Deshalb müssen wir Netzwerkstrategien haben, um die unterschiedlichen Perspektiven anzuzapfen. Man muss sich Gesprächspartnern aussetzen, mit denen man nicht immer zu tun hat, die einen verunsichern. Von denen man Informationen bekommt, die man gar nicht gesucht hatte, weil man sie nicht kannte. Normalerweise sind wir geneigt, unsere Sicht der Dinge von anderen bestätigen zu lassen. Das ist aber unproduktiv. Netzwerke bringen uns aus der Komfortzone – und es braucht Kompetenzen, damit umzugehen. Deshalb würde ich mich als Unternehmer um die Frage kümmern: Wie bekomme ich Mitarbeiter dazu, sich innerhalb und außerhalb der Branche zu vernetzen? Und wie kann ich dieses Netzwerk für mein Unternehmen nutzbar machen?
Sie sind auch Herausgeber der von Hans Magnus Enzensberger gegründeten Kulturzeitschrift „Kursbuch“. Ihre erste Ausgabe stellten Sie unter das Motto „Krisen lieben“. Was macht Krisen sexy?
Natürlich hat der Titel eine ironische Komponente. Was wir damit zeigen wollen, ist lediglich, dass sich die moderne Gesellschaft stets als krisenhaft darstellt. Die sind im Sinne von Anpassungsmängeln und Steuerungsdefiziten zwar ärgerlich, für die Moderne aber durchaus produktiv. Wir wissen ziemlich genau, dass sich Innovationen fast immer aus krisenhaft erlebten Situationen ergeben. Der Verzicht darauf, Krisen auch zu "lieben", bedeutet dann oft einen Verzicht auf Innovation, auf andere, bessere Lösungen.